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Subject: Fw: Offener Brief eines 1-Euro-Job-Verweigerers

Bernhard Jäger

Steffensweg 231

28219 Bremen
1-euro-jobs-nein@gmx.de

9/2005




Offener Brief eines 1-Euro-Job-Verweigerers





Künftig und für alle Zeit möge man davon absehen, mich in sogenannte ‚In-Jobs’ zu vermitteln. Ich stehe nicht zu Diensten. Ameisenhaufen macht man zu Krabbelgruppen, Bienenstöcke zu Summvereinen. Milch und Honig für Paläste, Suppe und Hartz in den Hütten. Was nun, kleiner Mann ?

Genug Brei ums Maul geschmiert. In Ämtern werden Portionsgläschen verteilt. Auf ihren Etiketten steht: Integration. Kleingedruckt darunter: Friss oder stirb. Man verschweigt: Wer von dem Brei kostet, dem wird die Zunge blau, und die Farbe geht nicht weg. Sie dient als Brandmal zum leichten Wiedererkennen von Ausschuss. Darüber ist nicht zu diskutieren. Zu viele vorsätzliche Lügen und Behauptungen wider besseres Wissen haben jeglicher Diskussion dazu das Fundament zerstört.

Wie kann man am Schimmelkäse erkennen, ob er noch schimmelt oder schon gammelt ? Noch nennt man uns Leistungsbezieher. Keine Rede mehr von ‚sozialer Hängematte’. Proteste gegen Hartz aller Reifegrade sind ausgesessen wie beim Kälberbrüten. Hartz sitzt bequem im Jet nach Nassau. Wir Nassauer sitzen angeschnallt zu Hause oder in der Patsche. Was verschafft uns die Ehre zahlreicher ‚Einladungen’ ? Aus Angst, dass sie uns den kleinen Happen halbieren oder ganz wegnehmen, wagen wir nicht, laut zu sagen, was wir denken. Bald beziehen wir Fleißkärtchen. Wetten ? Kindergarten, von der Wiege bis zur Bahre. Wir beziehen Prügel, die Andere längst verdient hätten. Nach Wahltag kommt Zahltag. Man kündigt noch härtere Gangart zum Teil offen an. Die derzeit dazu vornehm schweigen, nennt man gemeinhin ‚Politiker’.

Wenn die Portionsgläschen klein und kleiner werden, dass wir Glas und Deckel mitfressen, um satt zu werden, wird man dem Kind einen neuen Namen geben. ‚Gemeinschaftsfremde’ und ‚Schmarotzer’ hat man früher gesagt. Vorschläge zur Wahl ‚Unwort des Jahres 2006’ werden ab sofort entgegen genommen. Der Schrotflinte ‚Hartz IV’ folgt stärkeres Geschütz. Wie wär’s mit ‚Wulff & Koch’ ? In den Reihen der ‚Jungen Wilden’ wird bald zur großkalibrigen Treibjagd auf ‚Drückeberger’ geblasen, und dann, beim ‚Halali’ ziehen sie uns das Fell über die Ohren. Niemand steht heute in der Fußgängerzone mit dem Schild um den Hals ‚Suche Arbeit aller Art’. Das tut nicht Not. Man schafft Arbeit jeder Art, die artig angenommen wird. Jetzt hat man endlich leichtes Spiel mit Humanressourcen in der Armutsfalle, und wir dackeln an der kurzen Leine. Uns muss erst richtig elend sein, bevor wir giftig spucken. Bis dahin: Gebt der Binnennachfrage, was der Binnennachfrage ist.

Leider tauge ich nicht zum Agitator. Dafür koche ich zum Monatsende gerne Nudeln. Irgendwann steht jeder Nudelkocher schon zur Monatsmitte vor der Gretchen-Nachfrage: Gibt’s auch Sauce zu Spaghettis ? Gar Parmesan ? Und erst der Kohldampf in der Seele: Wie viel Buckel verträgt ein Mensch mit Rückgrat ?

Um wachsende Erwerbsarmut müssen wir uns nicht sorgen. Dafür sorgen Andere. Mir geht es fortan darum, dem eigenen Blick in den Spiegel standzuhalten. Es wird uns eingehämmert, ‚In-Jobs’ führten nicht zu Lohn-Dumping und leisteten der Ausweitung des Niedriglohn-Sektors keinen Vorschub. Wie kann man solchen Unsinn öffentlich behaupten, ohne rot anzulaufen vor Scham ?

Ich bekenne Farbe und sage hiermit laut und öffentlich ‚Nein’. Ich stehe der perfiden Form von Zuhälterei am Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Über mein Sandkorn im Getriebe wälzt und kugelt sich die Maschinerie. Ich bin mir der Konsequenz meiner Weigerung bewusst und rechne mit Sanktionen. Man wird mich nicht mit Beileid überschütten, wenn ich auf Folgen hinweise, für den Fall, dass man mich finanziell ausbluten lässt. Noch habe ich mich nicht zum Betteln entschlossen, und kriminell wird man nicht gerne ohne triftigen Grund.

Existenziell bedrohten Menschen bleibt als letzte Flucht seelische Dekompensation. Sie kriegen vor Wut, Ohnmacht und Verzweiflung irgendwann zuviel, rasten aus, rüsten auf oder treten ab. Aggression und Depression. Verplempertes Geld, und schade um die teuren und nutzlosen Symptom-Therapien auf Kosten der Gemeinschaft. Gnade den kranken Seelen. Nur keine Sorge um mich: Nicht ich werde krank; ich schreibe mich gerade noch gesünder als ich eh schon bin. Dafür aber werden viel tausend neue Buckler neu erkranken.

Was mehrfache Erkrankungen meiner Frau (ein wesentlicher Grund für meine lange Arbeitslosigkeit) nicht geschafft haben, Hartz IV hat es fertig gebracht, meine Familie über 2010 hinaus auseinander zu reißen. Das ist meine Agenda. Einzelheiten dazu gibt es selbst auf Nachfrage nicht. Ich lache herzlich mit allen, die nur darauf gewartet haben, zu munkeln, es könne nicht schaden, die Alte mal eine Zeit lang los zu sein. Hauptsache Spaß beim fröhlichen Scherzen. Schon viel zu lange ist der Kontakt zu meiner Familie aufs Telefon beschränkt.

Unter schwierigen Umständen integriert zu haben, integer gewesen zu sein, wird mir jetzt mit Ausgrenzung vergolten. Die Kinder unter Entbehrung zu Abitur und Studium geführt zu haben, wird mir mit Altersarmut verrechnet. Mein Beitrag zur Entwicklung, zum Funktionieren der Gesellschaft, wichtiger und zukunftweisender als die ‚gute Rente’ im Visier, wird mir quittiert mit rotzigen Bemerkungen in Behörden. Die Grenze des Hinnehmbaren ist deutlich überschritten. Wer jetzt nicht ‚Nein’ sagt, soll sich was wundern über fortschreitend dreiste Zumutungen im Laufe der anhaltenden Flaute. Das Beste kommt erst noch.

In meiner Weigerung, mich durch das System ‚In-Job’ vereinnahmen zu lassen, liegt Sorge um unsere gesellschaftliche Zukunft. Ich habe Sorge um die Zukunft meiner Kinder. Mit der Erklärung ‚Da mache ich endgültig nicht mehr mit’ will ich auch ihnen zeigen, wie man die eigene Würde wahrt, wenn man am Scheideweg gezwungen ist, seine Richtung zu wählen und zu gehen, erhobenen Hauptes und ohne Angst vor Nachteilen.

Bevor mir jemand schreibt, er nehme meine Sorgen ernst, lasse er sich lieber einen guten Witz einfallen. Um den würd’ ich dann bitten.

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