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Liebe Katja Kipping,

nachfolgenden Text meiner Stellungnahme zum Entwurf des Antrags der Linksfraktion an den Bundestag könntest Du als hart empfinden. Dazu würdest Du persönlich aber keinen Anlass haben. Du bist noch nicht so lange im Metier wie andere. Trotzdem bist Du schon wacker bei der Christiansen aufgetreten, und Deine Worte gestern im Fraktionssaal waren angemessen. Ich selber bin 75 und lerne auch noch. Ich hoffe, dass Dir mein nachfolgender Text (auch in der Anlage als doc-Datei) eine Unterstützung und weiteren Empfängern eine Wähler-Mahnung sein kann, damit der Antrag für Abgeordnete aller Fraktionen un-ignorierbar und für die Bürger draußen ermutigend wird.

Mit sozialistischen Kampfesgrüssen Rainer Thiel


Besonderen Gruß an Gesine Lötzsch, die durch Mut und Ausdauer seit langem den vielen anderen zur Seite gestanden hat. Auch hat sie sichs nicht nehmen lassen, die Meinungen der Hartz-Betroffenen anzuhören.

Für den reader der Linksfraktion.

Dieser Beitrag war für die Anhörung im Haus des Bundestages am 24. Februar bestimmt. Von dem Beitrag konnten aber wegen Mangel an Zeit zum Anhören nur 3 der 8 Gedanken ausgewählt und in stark vergröbernder Abkürzung angesprochen werden. Das hat den Moderator nicht davon abgehalten, den derart abgekürzten Vortrag zu stören durch den Versuch, den Redner zum Abbruch zu zwingen.

Rainer Thiel, Dorfstr. 49a, 15859 Storkow OT Bugk, Tel/Fax 033678 60263

www.thiel-dialektik.de, webmaster(at)thiel-dialektik.de


Meine Meinung zum Entwurf des Antrags der Linksfraktion

„Für Selbstbestimmung und soziale Sicherheit – Strategie zur Überwindung von Hartz IV“

Ich bin Mitinitiator und Mitstreiter von Sozialforen in Königs Wusterhausen und Fürstenwalde und Mitgestalter einschlägiger Netze in Brandenburg, die ihrerseits mit analogen Netzen in der ganzen Bundesrepublik verbunden sind. Auch bei Attac bin ich aktiv. Ich verstehe, dass dem Bundestag eine Strategie zur Überwindung von Hartz IV mit einem einzigen Antrag nicht abgerungen werden kann. Ich verstehe auch, dass deshalb im Antrag der Linksfraktion eine Verbindung von kurz- mittel- und längerfristigen Teilstrategien angezielt werden muss. Aber auch die Fassung vom 24. Januar scheint mir nicht ausgereift. Ich würde gründliche Überarbeitung empfehlen. Der Antrag im Bundestag soll doch wenigstens einen Teil der Abgeordneten anderer Fraktionen zum Nachdenken anregen, und er sollte natürlich auch nach Außen wirken. So hat August Bebel, der erste linke Parlamentarier (damals hieß alles noch „Sozialdemokratie“) den linken Parlamentarismus verstanden. Dieses Minimalziel muss erreichbar gemacht werden: „Sozial mit aller Kraft“. Und ich füge hinzu: „Die Würde des Menschen gilt als unantastbar – sie muss wiederhergestellt werden.“

Bei wiederholtem Lesen des Entwurfs fiel mir auf:

1. Im einführenden Absatz auf Seite 1 werden Möglichkeiten verschenkt, den Herrschenden das Versagen ihrer Politik deutlich vor Augen zu führen. Man spricht ja hier nicht als Koalitionspartner, der immer mal wieder etwas am Partner auszusetzen hat. Man gilt in der Öffentlichkeit als Opposition und ist dazu auch durch Verfassung und Wählerwillen verpflichtet. Dazu braucht man politischen Willen, und dann strebt man in einem Antrag an den Bundestag auch Verfeinerung von Logik und sprachlichem Ausdruck an. Man muss im Bundestag nicht die Worte gebrauchen „Hartz ist Dreck und Hartz muss weg“. Hartz muss weg, natürlich, aber man kann das logisch und sprachlich feiner ausdrücken, z.B. auch durch Sichtbarmachen von Paradoxien, die auf Tatsachen beruhen, die alle Abgeordneten und viele Bürger verstehen, wenn sie – jede einzeln für sich – benannt werden, die aber miteinander im Gegensatz stehen, was nicht jeder ohne Hilfe versteht. Werden logisch und sprachlich verfeinerte Texte angeboten, die indirekt auch politische Energie ausstrahlen, auch eine gewisse Kompromisslosigkeit des Antragstellers, die nicht durch vordergründige Kompromisswilligkeit mit Blick auf die nächste Wahl abgeschwächt ist, dann gewinnt man Achtung auch bei Andersdenkenden, im Parlament und außerhalb. Wenn aber der politische Anspruch so niedrig angesetzt ist wie mit dem gegenwärtigen Entwurf – bei wem will man dann an Respekt gewinnen?

2. Unmittelbar nach dem präambel-artigen ersten Absatz, unter „Zentrale Veränderungen“ – darin erster Punkt – heißt es im Entwurf des Antrags an den Bundestag: „Mit Hartz IV wurde das Prinzip ´keine Leistung ohne Gegenleistung´ im Sozialsystem verschärft.“ Dem halte ich entgegen: Wenn es darum ginge, dann könnte man – verdammt noch mal - Hartz IV nicht ablehnen, denn der Staat hat die Pflicht gegenüber dem Steuerzahler, für angemessene, auch zugeschärfte Gegenüberstellung von Leistung und Gegenleistung zu sorgen. Dann hätten ja die Herrschenden recht, und man wäre, wenn es darum ginge, auf die Demagogie der Herrschenden hereingefallen. Auf diesen Punkt „keine Leistung ohne Gegenleistung“ hat ja Clement demagogisch seine Volksverhetzung gegründet, weil viele Bürger so denken. Die Herrschenden reden nun mal demagogisch. Deshalb halte ich dagegen: Mit diesem Satz im Entwurf der Linksfraktion wird den Herrschenden zum Munde geredet. (Dergleichen kommt in der PDS immer wieder vor. Das habe ich auch in Brandenburg jahrelang erlebt und dokumentiert in „Das vergessene Volk – Mein Praktikum in Landespolitik“, Regionen-Verlag 2005) Die Knackpunkte sind in Wirklichkeit: a) Es gibt – verdammt noch mal - viel zu wenig Arbeitsplätze: Die Arbeitslosen müssten deshalb von der Gesellschaft, die ihnen den Arbeitsplatz geraubt hat, voll entschädigt werden. Und dann gäbe es Hartz IV gar nicht. Und b) wird mit dem Prinzip „Fördern und Fordern“ unterstellt, dass die Arbeitslosen zu faul sind zum arbeiten, man müsste sie also „Fordern“. Das ist die zum Gesetz gewordene Demagogie. Der knackige Doppelpunkt a) und b) wird aber an dieser entscheidenden Stelle von der PDS nicht angesprochen, der knackige Doppelpunkt klingt nur wie nebenbei, beiläufig, an nachgeordneten Stellen des Textes an. Diesen Doppelpunkt muss man knallhart ansprechen, und davon ausgehend müssen auch die kurzfristigen Forderungen im Antrag gestaltet werden. Durch politisch angemessenes Ansprechen der kurzfristigen Forderungen wird auch dem langfristigen Anliegen entsprochen. Darin könnte dann die Verbindung von Kurz- und Langfristigkeit gesehen werden.

Noch mal zur Demagogie, der kein Vorschub geleistet werden darf: Ohne unbedingt das Wort „Demagogie der Herrschenden“ im schriftlichen Antrag an den Bundestag zu verwenden, kann die Demagogie durch Gegenüberstellen von Zahlen kenntlich gemacht werden: Wie viele Erwerbslose auf wie viele Stellen? Und das seit fünfzehn Jahren? Trotz aller Förderung der großen Unternehmen? (Förderung durch Steuergeschenke, Forderung durch „bittebitte“. Ich wäre bereit, dazu im Bundestag vorzutragen, aber ich kann kein Rederecht beanspruchen. Mitunter erstreite ich mir Rederecht in anderen Korporationen. (Davon hat auch schon mal eine Bundestagsabgeordnete der PDS profitiert, der ich zugunsten entrechteter Bürger das okkupierte Mikro weitergeben konnte.)

3. Am Ende von Abschnitt I – auf Seite 2 – heißt es, es werde eine Strategie zur Überwindung von Hartz IV benötigt. Richtig. Aber was dann kommt, läuft nur auf Abmilderung von Hartz IV hinaus. Die strategische Option „Allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit und Neufassung des bestehenden Arbeitszeitgesetzes“ zugunsten des Projekts „ArbeitFairTeilen“ wird im ganzen Papier nicht einmal erwähnt. Dabei hätte es die Chance geboten, das Hartz-Syndrom mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit zu verbinden, und das wäre eine Chance, bei einem Teil anderen Fraktionen Nachdenken anzuregen. Es ist Wahnsinn, dass die Option „Arbeitszeitverkürzung“, die auch in den Gewerkschaften zunehmend wieder Aufmerksamkeit erfährt, nachdem sie schon in den achtziger Jahren erfolgreich praktiziert worden ist, durch den ganzen Bundestag nicht im geringsten angesprochen wird, auch nicht durch die PDS. Obwohl es dem Bundestag obliegt, das gegenwärtige Arbeitszeitgesetz auf den neuesten Stand zu bringen!!! Dieses Gesetz unterliegt nun mal der Jurisdiktion des Bundestages. (Der PDS wurde dazu seit vier Jahren mehrfach konzeptionelles Material vorgelegt. Es ist unverständlicherweise nicht beachtet worden, obwohl es sich auf das Menschenkonzept von Karl Marx stützt. Peter Grottian hat schon vor Jahren ein Konzept für den Öffentlichen Dienst in Berlin entworfen, auf das sich der Senat hätte stützen können, um einem rot-roten Anspruch gerecht zu werden.) Indem die Linksfraktion zur Arbeitszeitverkürzung schweigt, verweigert sie auch den gegenwärtig streikenden Ver.di-Kollegen den Beistand. Analoge Beobachtungen habe ich in Brandenburg gemacht, als eine Volksinitiative gegen die Schulbussgelder 106 000 Unterschriften gesammelt hatte. (Dokumentiert in „Das vergessene Volk – Mein Praktikum in Landespolitik.“) Insofern hätte die Linksfraktion Gelegenheit, nunmehr ein neues Blatt in der Geschichte aufzuschlagen. Dabei muss viel Zeitverlust wettgemacht werden, sonst sind am Ende die Neonazis schneller als wir. Wie sie vorrücken, zeigen ihre Angriffe in Halbe. Auch dort brauchen wir ausgepuffte Texte, die vor der Staatsmacht bestand haben können.

4. Im Entwurf des Antrags der Linksfraktion sind die Fakten nicht nur nicht in ihrer ganzen Härte und Konkretheit angesprochen. Auch die Verteilung der angesprochenen Aspekte auf die Abschnitte des Textes ist zum Teil unpassend. So müsste zum Beispiel der „Qualifikationsschutz“ nicht unter ferner liefen in der „Begründung“ zum Antrag an den Bundestag (Seite 8) angesprochen werden, sondern als selbständiger Punkt 7 im Abschnitt II („Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf“) – dort auf Seite 5. Hier drängt sich der Bezug zu mehreren Artikeln im Grundgesetz geradezu auf. Die Chance muss wahrgenommen werden. Und in der Frage „Qualifikationsschutz“ haben wir eine der tollwütigsten Paradoxien von Hartz IV. Das kann man doch auch Angehörigen anderer Fraktionen verständlich machen.

5. Generell ungenügend ist im Antrag auf das Grundgesetz bezug genommen: Im eigentlichen Antrag überhaupt nicht, in der Begründung auf Seite 7 untere Hälfte völlig ungenügend. Die Chance, das Parlament, die Herrschenden und die Bürger mit dem Grundgesetz zu konfrontieren, blieb bisher fast vollständig ungenutzt. Die Verfassungswidrigkeit von Hartz IV ist aufmerksamen Rechercheuren längst aufgefallen, auch mir als Nichtjuristen. Dem Bundesvorstand der PDS müsste ein Rechtsgutachten bekannt sein, das in seinem Auftrag im November 2004 erstellt worden ist. Seitdem sind 15 Monate vergangen, aber die PDS als Partei hat keine sichtbaren Versuche unternommen, zugunsten leidender Menschen das Grundgesetz ins Spiel zu bringen. (In analogen Fragen – die Brandenburgische Landesverfassung in Bildungsfragen ins Spiel zu bringen – habe ich auch als nicht unmittelbar Betroffener zwei Verfassungsbeschwerden auf den Weg gebracht, die treffender ausgearbeitet waren, als wenn ein Rechtsanwalt das getan haben würde. Mir ist also bekannt, wie man so etwas macht. Dokumentiert in „Das vergessene Volk – Mein Praktikum in Landespolitik“.) Allein schon der aufklärerische Effekt durch deutliche Bezugnahme aufs Grundgesetz wäre für die Entwicklung des Bürgerwiderstands wichtiger gewesen als so manches Wahlplakat der Linkspartei, z.B. das Plakat mit dem Regenschirm. Das hat kein Direktmandat eingebracht, nicht einmal für das „Schwergewicht“ Bisky gegenüber einem unsympathischen, leichgewichtigen Konkurrenten.

6. Das Wort „Bedarfssicherung“ wurde zur Charakterisierung von Hartz IV und zum anderen als Mittel zur „Überwindung von Hartz IV“ benutzt. Die Unterschiedlichkeit der beiden Wortbenutzungen wurde auch durch Nutzung des Wortes „bedarfsorientiert“ nicht angemessen deutlich gemacht. Auf Seite 6 unten / Seite 7 oben wird bezug genommen „auf gültige Standards der Bestimmung der Regelleistung“. Ich kann mir denken, was gemeint sein könnte. Aber wie das im Antrag formuliert ist – das ist unverständlich.

7. Ferner gibt es mehrere ungeschickte Formulierungen. Auch dadurch werden Chancen vergeben, einen Teil der Bundestagsabgeordneten zum Nachdenken über die Lage anzuregen. Übrigens: Neulich der Antrag der Fraktion zum Mindestlohn hatte in seiner kurzen Begründung auch einen logischen Schnitzer. So etwas gerät zum Eigentor. Die ungeschickten Formulierungen an dieser Stelle zu kennzeichnen würde den Umfang dieses meines Beitrags sprengen.

8. Nun könnte die Linksfraktion sagen: Wir sind ja erst 120 Tage im Bundestag. Da bereiten wir uns erst mal auf einen Versuchsballon vor, der vielleicht am 150. Tag unsrer Legislatur aufgelassen wird. Dem würde ich entgegenhalten: Selbst wenn der Versuchsballon von der Linksfraktion fertiggestellt und danach vom Bundestag aufgelassen würde – der Regierung wird bis Jahresende Zeit gelassen, den Ballon aufzunehmen. Und wenn die Linksfraktion trotzdem versuchen sollte, in der Zwischenzeit mal eine kleine Initiative im Bundestag zu ergreifen, dann wird ihr entgegengehalten werden: „Meine Damen und Herren von der Linksfraktion, Sie haben doch selber mit ihrem Antrag der Regierung bis Jahresende Zeit zugebilligt, halten sie den Mund bis dahin.“ Also muss die Chance, in den nächsten Wochen einen Antrag einzureichen, maximal genutzt werden. Den Notleidenden ist von Angehörigen der PDS nicht nur ein Mal suggeriert worden, sie sollen doch nicht so oft auf die Straße gehen, sie sollen lieber auf uns – die Partei – vertrauen. Nun ist die Fraktion maximal gefordert.

Meinen Freunden des außerparlamentarischen Bereichs möchte ich sagen: Wir dürfen nicht aufhören, selber zu denken und Widerstand zu leisten. Helfen wir den Bürgern, den Aufrechten Gang zu üben.

Rainer Thiel



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